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Bauen und leben mit Holz – Das Fachmagazin von Holzbau Schweiz

1/2023 Zusammen stark

AUS.GEZEICHNET

Wo das Miteinander im Zentrum steht

Die Wohnsiedlung Kuppe in Horgen trotzt den gängigen Bebauungsprinzipien in Luxuslagen wie dieser – hoch über dem Zürichsee. Hier ist es nicht die Aussicht, die die Hauptrolle spielt.

Text Susanne Lieber | Fotos Philip Heckhausen | Pläne Esch Sintzel GmbH

 

Die teuren Hanggrundstücke rund um den Zürichsee sind gespickt mit gleichförmiger Architektur: Terrassenhäuser noch und nöcher, die sich wie Klone an die Hänge schmiegen. Zumeist «unbeseelte», nüchterne Kisten, allesamt zum See hin orientiert. Umso beachtlicher, ja gar erfrischend ist es, wenn Bauprojekte entstehen, die andere Prioritäten setzen. So wie die Wohnsiedlung Kuppe, die als erster Bauabschnitt des neuen Quartiers «Trift Horgen» fertiggestellt wurde. Knapp 9000 Quadratmeter gross ist die Parzelle, die fünf Mehrfamilienhäuser in Elementbauweise und ein Velohaus umfasst. Locker verteilen sich die Holzbauten um einen ovalen Platz herum. Alle Wohnungen sind hierbei gleichermassen ausgerichtet: zur unbebauten Mitte hin, wo das Miteinander aktiv gelebt wird.


Soziale Verantwortung verpflichtet

Das begrünte Zentrum der fünf Holzgebäude ist Dreh- und Angelpunkt der bunt zusammengewürfelten Bewohnerschar. Hier wird gespielt, gefeiert und geplaudert – eben alles, was eine Gemeinschaft stärkt. «Der so­ziale Aspekt des miteinander Wohnens stand hier ganz klar im Mittelpunt des Entwurfs», so Projektleiterin Aline Sidler vom Büro Esch Sintzel Architekten. «Wichtig war der Bauherrschaft zudem, dass auf dem Gelände nicht nur ein sozial verträgliches, sondern auch ein nachhaltiges Bauprojekt entsteht», ergänzt die Architektin. Die Bauherrschaft ist in diesem Falle die Trift AG, die 2010 von Anna Barbara Züst gegründet wurde. Sie ist die Nichte der bekannten Unternehmerin Elisabeth Feller (1910–1973) aus Horgen, deren Name noch heute für Steckdosen und Schalter, aber auch für besonderes Sozialengagement steht. Auch Anna Barbara Züst sieht sich in sozialer Verantwortung und bebaut nun entsprechend ihr Erbe – ein rund 40 000 Quadratmeter grosses Grundstück, das direkt neben dem Firmengelände liegt. Dort soll Lebensraum für alle entstehen, jenseits renditegetriebener Immobilienspekulation.


Für eine 2000-Watt-Gesellschaft

Das neue Quartier «Trift Horgen» umfasst insgesamt vier Areale, die nacheinander von verschiedenen Architekturbüros bebaut werden. Mit dem Areal Kuppe machte das Büro Esch Sintzel Architekten den Anfang. Voraussichtlich bis 2024 werden dann auch das Areal Mitte (mit ehemaligem Fabrikantenhaus, historischem Park und einem Ensemble aus Scheune, Gärtner- und Waschhaus), das Areal Fischenrüti (mit fünf Mehrfamilienhäusern) sowie das Areal Stotzweid (mit einem Mehrfamilienhaus inklusive Kindertagesstätte sowie einem Büro- und Gewerbegebäude) fertiggestellt sein. Über Fusswege sind die unterschiedlichen Bereiche miteinander verbunden.

Jedes der vier Bauvorhaben spricht zwar architektonisch jeweils eine andere Sprache, eines aber verbindet das ganze Quartier: «Trift Horgen» orientiert sich an den Zielen einer 2000-Watt-Gesellschaft, die unter anderem ein Leben ohne Auto propagiert. Und wo keine Autos, da keine Stellplätze und Gara­gen. Stattdessen wurde extra eine neue Bushaltestelle gebaut. Wer dennoch auf individuelle Mobilität setzt, dem stehen von der Trift AG Elektrovelos zur Verfügung. Der Verzicht auf Autos und Parkplätze hatte übrigens seine Tücken und erforderte ein dickes Nervenkostüm. Denn um das Bauprojekt autofrei zu gestalten, bedurfte es in Horgen erst einer Änderung der Bauordnung. Ein bürokratischer Wahnsinn, der das Projekt um Jahre verzögerte.


Architektur als flüchtiger Moment

Das Areal Kuppe erinnert an das Gelage einer Zirkustruppe, deren Wohnwagen aus Holz lose um einen Zeltplatz stehen. Der Vergleich kommt dabei nicht von ungefähr, denn genau das war hier der gestalterische Ansatz: eine provisorisch anmutende Holzarchitektur zu schaffen, die gesellig und gleichzeitig flüchtig erscheint. Nicht für die Ewigkeit gemacht, und trotzdem verbindlich. Die Architekten wollten deshalb die Gebäude ursprünglich auch nicht unterkellern, um den Charakter des Provisoriums herauszukehren. Nach langem Hin und Her – und nicht zuletzt aus statischen Gründen – fiel der Beschluss für eine Teilunterkellerung. Dort befinden sich nun private Kellerabteile und gemeinschaftlich genutzte Waschräume.

Die zweigeschossigen Gebäude umfassen je sechs Wohnungen mit eineinhalb bis viereinhalb Zimmern, die sich über die beiden Ebenen miteinander verzahnen. Die Belegung der grössten Wohnungseinheit sieht hierbei mindestens drei Personen vor. Auch dies ist dem 2000-Watt-Konzept geschuldet, das vor allem Familien zugutekommen soll. In der Gesamtschau ist die Bewohnerstruktur dennoch durchwachsen und reicht von alleinstehenden Rentnern bis hin zu studentischen WGs. Eine perfekte Mischung, so bunt wie das Leben.

Umgeben von Gemeinschaftsgärten, in denen zusammen Obst und Gemüse angebaut wird, wirken die Holzhäuser regelrecht leicht und filigran. Die lockere Gebäudeformation ist zudem so ausgetüftelt, dass von der Siedlungsmitte der Blick zu See und Bergen nie völlig versperrt ist – weil genügend Abstand zwischen den Gebäuden besteht.


Elementbau mit Regenschirm

Erschlossen werden die Wohnungen vom zentralen Gemeinschaftsplatz aus, zu dem sich auch alle Aussensitzplätze vor den Häusern orientieren. Die fünf Gebäude, gefertigt in Elementbauweise, bestehen im Wesentlichen aus Dreischichtplatten in Fichte und Tanne. Für die Fertigung der Elemente ist das Holzbauunternehmen W. Rüegg AG in Kaltbrunn beauftragt worden. Hinsichtlich der Holzbau-Ingenieurleistungen wurde auf das Know-how der EBP Schweiz AG aus Zürich vertraut. Denn so simpel die Architektur erscheinen mag, einfach ist sie keineswegs: Aufgrund der Verschachtelung der Woh­nun­gen miteinander gestaltete sich die Entwicklung des Tragsystems mit seinen statischen und bauphysikalischen Herausforderungen als besonders anspruchsvoll (siehe dazu auch Interview auf S.26).

Schräg gesetzte Stützen fangen die Last des auskragenden Daches ab, das sich – losgelöst wie ein Regenschirm – jeweils über ein Gebäude spannt und die Veranda darunter vor Regen schützt. Die Dachhaut besteht aus Wellblech, das den provisorischen Charakter des Gebäudes einmal mehr unterstreicht. «Die Konstruktionsart, bei der sich alles so scheinbar einfach zusammenfügt, soll den Eindruck erwecken, als hätte man das Gebäude nur simpel zusammengenagelt und -geschraubt», erklärt die Projektleiterin Aline Sidler das unkonventionelle Konzept. Auch im Inneren herrscht das Bild eines unkomplizierten Wohngebäudes vor. Die sichtbaren Holzoberflächen wurden zumeist roh belassen und lediglich mit einem UV-Schutz behandelt.

Bleibt jetzt also nur abzuwarten, wie lange die Wohnsiedlung Kuppe in dieser architektonischen Form tatsächlich besteht. Denn wie heisst es landläufig so schön: Nichts hält länger als ein «Provisorium»?…

Auszeichnungen
Das Projekt Wohnsiedlung Kuppe schlug bereits hohe Wellen und wurde schon doppelt prämiert. Zum einen mit dem Architekturpreis des Kantons Zürich, der alle drei Jahre für beispielhafte Bauten und besondere Leistungen im Städtebau vergeben wird. Zum anderen mit dem neu eingeführten Sonderpreis «Der Grüne Leu», der das Projekt für sein nachhaltiges Konzept honoriert.
ruegg-kaltbrunn.ch, trift-horgen.ch


Esch Sintzel GmbH

Im Kreis 4, dem Kreativviertel Zürichs, befindet sich die Schaltzentrale des umtriebigen Architekturbüros. Der Schwerpunkt des insgesamt 36-köpfigen Teams liegt vorwiegend im Bereich Wohnüberbauungen, für die das Büro bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. eschsintzel.ch


Das Projekt – die Fakten

Objekt: Wohnsiedlung Kuppe
Standort: Bergstrasse, Horgen-Oberdorf (ZH)
Bauherrschaft: Trift Bewirtschaftung von Grundstücken AG, Zürich
Fertigstellung: September 2021
Raumprogramm: 5 Gebäude mit insgesamt 30 Wohnungen (1,5–4,5 Zimmer) und Velohaus
Parzellenfläche (gesamtes Areal Kuppe): 8871 m2
Geschossfläche (SIA 416): insgesamt 3890 m2
Gebäudevolumen (SIA 416): insgesamt 14 038 m3
Architektur: Esch Sintzel GmbH, Zürich, in Zusammenarbeit mit BGS & Partner
Architekten AG, Rapperswil (SG)
Planung als Generalplaner: ARGE Esch Sintzel GmbH/BGS & Partner
Architekten AG, Zürich
Ausführung als Totalunternehmer: ARGE TU KUPPE: Esch Sintzel GmbH,
BGS & Partner Architekten GmbH, Rapperswil
Holzbauingenieur: EBP Schweiz AG, Zürich
Holzbau (Montagebau): W.Rüegg AG, Kaltbrunn (SG)
Holzkonstruktion: Elementbau mit Dreischichtplatten (Fichte/Tanne)
Besonderheiten: SIA-Effizienzpfad Energie
Auszeichnungen: Architekturpreis Kanton Zürich (2022) sowie Sonderpreis «Der grüne Leu» (2022)
Baukosten: insgesamt CHF 14,2 Mio.

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