Magazin FIRST

Bauen und leben mit Holz – Das Fachmagazin von Holzbau Schweiz

01/2017 Natur pur

Lebens.raum

Turm der Biodiversität

Weit reicht der Blick von der Kanzel über den Natur- und Tierpark Goldau. Weitreichend ist auch seine Ausstrahlung. Der neue Turm der Biodiversität misst nicht nur stolze 30 Meter, sondern ist auch ganz aus Schweizer Holz gebaut.

Text David Coulin | Bilder Frédéric Urbe

Ein Abend im Jahr 2008: Theo Weber steht auf dem Balkon seines Hauses und blickt in Richtung Natur- und Tierpark Goldau. Genauer gesagt, auf den gigantischen Schutthügel, den der Bergstutz im Jahr 1806 in Goldau hinterliess und den der Sturm Lothar im Jahr 1999 kahl fegte. Da kommt Theo Weber eine Eingebung: "Ein Turm! Ja, ein Turm, dort auf dem Hügel, nicht höher als die Baumwipfel." Ein Bauwerk als ein Wahrzeichen der Kraft auf den Trümmern der Vergangenheit, mit einem Weitblick vom Zugersee bis zu den Mythen und von der Rigi Nordlehne bis zum Rossberg. "Zuerst dachte ich an einen bescheidenen, funktionalen Rundholzturm", erinnert sich der Leiter des Amtes für Wald und Naturgefahren des Kantons Schwyz, der auch Stiftungsbeirat des Natur- und Tierparks Goldau ist. "Als ich die Idee im Stiftungsrat einbrachte, wurde bald klar: Wenn schon, dann soll der Turm ein architektonisch relevantes Wahrzeichen werden."

 

Zwei Wege bis zur Aussichtsplattform

Einige Zeit später lud Theo Weber einen Architekten nach Goldau ein, den er schon gut kannte und der gerade mit seinen innovativen Holzbauten Furore machte: Gion A. Caminada. "Wir besichtigten das Gelände und ich erläuterte ihm die Idee: nicht höher als die Baumwipfel, zwei Aufgänge aus Sicherheitsgründen", erzählt Weber. Beim Verlassen des Parks sagte ihm der Architekt: "Theo, da machen wir was Schönes." Der Virus war auf den Bündner und sein Team übergesprungen. Beredtes Zeugnis davon ist das Skizzenbuch von Caminada: Unzählige Türme aus der ganzen Welt sind darin abgebildet. Auf dem Deckblatt aufgeklebt jedoch: Der Hund von Alberto Giacometti, wie er da trabt, geschmeidig und leicht, gespannt und doch erhaben. "Vielleicht war es der Schritt dieses Hundes, der die Vision des schreitenden Menschen reifen liess", sagt Caminada. Eine Vision, die den Turm architektonisch prägt. "Mit diesem Gestus lassen sich die verschiedenen Wege miteinander verbinden, die zum Turm hinführen", so der Architekt. "Er schafft auch Bezüge, wenn man den Turm ersteigt."

Tatsächlich: Zuerst führen zwei getrennte Türen zu zwei getrennten Treppen. Bald gewinnt man für einen Moment Einblick ins andere Treppenhaus - es kann ein erster Austausch stattfinden. Nochmals etwas weiter oben ist die Trennung der Treppenaufgänge aufgehoben, man kann sich begrüssen. Ganz oben auf dem Turm angelangt, geniesst man gemeinsam die Aussicht. Wer den Turm betritt, hat wegen der schrägen Wände das Gefühl, vornüberzukippen. Um dem entgegenzuwirken, macht der Besucher einen Ausfallschritt - und schon ist er im Gestus des Turms - oder vielleicht auch des Hundes von Giacometti. Der Besucher sieht aber noch anderes: Die Fassadenlatten sind so gesetzt, dass durch die Zwischenräume Licht eindringt, so plastisch, dass es greifbar scheint. "Die Fassade ist nicht mehr als eine Verkleidung der Holzkonstruktion", erklärt Caminada, "so durchlässig, dass Bezüge von innen nach aus-sen, zwischen Mensch und Natur möglich sind." Architektonisch Interessierte entdecken weitere Details: zum Beispiel, wie die Leimfugen der gigantischen Brettsperrholzträger leicht gegeneinander versetzt sind. Dies, um den Innenwänden den Charakter der industriellen Fertigung zu nehmen.

Das Holz lebt, der Turm passt sich an

Nicht nur für Architekten, auch für Holzbauingenieure hält der 30 Meter hohe Turm mit seinen neun Geschossebenen interessante Aspekte bereit. Überall in den Ecken erkennt man die schwarze Füllmasse der Lager zwischen den verschiedenen Teilen der Holzkonstruktion. "Der Umgang mit dem Schwinden und Quellen des Holzes - möglich sind Differenzen bis über vier Zentimeter - war für uns die grösste Herausforderung", so Walter Bieler, Chef des verantwortlichen Ingenieurbüros - auch er ein Bündner. Unsichtbar bleiben hingegen die 34 Mikropfähle, die nach einem Aushub von 475 Kubikmetern Erde bis zu 21 Meter in den Untergrund getrieben werden mussten. Auch die Stahlstreben, die zur Fundierung in den Beton gegossen wurden, sind nicht mehr sichtbar. Dank einer innovativen Leimmethode der Neuen Holzbau AG Lungern sind sie untrennbar mit den Holzträgern verbunden. Die Verankerungen des Turmes im Beton sind teils verschiebbar, um das Quellen und Schwinden aufzufangen. Das erforderte eine innovative Konstruktionslösung mit einem GS-Ankersystem, das Zugkräfte bis zu 180 Tonnen aushalten muss. So kann der 117 Tonnen schwere Turm auch Stürmen mit einer Stärke von bis zu 250 Stundenkilometern trotzen. Zimmerleute werden bei den Aufstiegstreppen dort stehenbleiben, wo im Profil die Gewindestangen zu sehen sind, die den mechanischen Übergang von einem Träger zum anderen sicherstellen. Um die bis zu 16 Meter langen und bis zu viereinhalb Tonnen schweren Brettsperrholzträger über dreissig Meter anzuheben und millimetergenau ineinanderzufügen, war ein riesiger Pneukran im Einsatz. "Dahinter stand eine monatelange Planung", sagt Josef Annen, Geschäftsleiter der ausführenden Annen Holzbau AG über die Herausforderungen während der Montage. "Nichts durfte dem Zufall überlassen werden. Auch der Transport nicht." Damit der 40-Tonnen-Lastwagen überhaupt zufahren konnte, mussten Tieranlagen teilweise abgebaut werden. Ein Holzfällertraktor half, wenn der Lastwagen im steilen Gelände nicht mehr weiterkam, und schleppte ihn mitsamt der Last bergwärts Richtung Montageplatz. Die Lastwagen kamen aus dem nahen Haltikon ob Küssnacht am Rigi. Bei der Schilliger Holz AG wurde das gesamte, im Turm verbaute Holz eingesägt, getrocknet, verleimt und gehobelt.

Grüner Fussabdruck dank regionaler Wertschöpfung

Das Holz des Turms stammt fast zu 100 Prozent aus Schweizer Wäldern. Sogar an der Rigi Nordlehne wurde Holz für den Tierparkturm eingeschlagen. "Es war für uns sehr wichtig, mit regionalen und lokalen Partnern zusammenzuarbeiten", betont Anna Baumann, Direktorin des Natur- und Tierparks Goldau. "Dank der kurzen Transportwege steckt im Bau sehr wenig graue Energie, und wir konnten einen Beitrag zur Stärkung der lokalen Wertschöpfungskette Holz leisten." Eine Plakette mit dem Herkunftszeichen Schweizer Holz am Turm weist auf die inneren Werte des Bauwerks hin. Vogel- und Fledermaus-Nistkästen an der Aussenfassade des Turms sorgen dafür, dass der Turm nicht nur einen Bezug zur Landschaft, sondern auch zur Tierwelt schafft. Künftig sollen kleine Kameras den Turmbesuchern einen direkten Einblick in die Nistkästen geben.

Seit Theo Weber auf dem Balkon seines Hauses die Eingebung zum Turmbau hatte, sind einige Jahre vergangen. Doch im Herbst 2016 ist sein Traum Realität geworden. tierpark.ch, walterbieler.ch, schilliger.ch, annen-holzbau.ch

Zahlen und Fakten

Zahlen und Fakten
Höhe: 29,6 m
Fundament: Aushub 475 m3
Beton: 150 m3
Verankerung: 34 Mikropfähle mit einer Gesamtlänge von 457 m
Treppenaufgang: 144 Stufen und drei Plattformen
Ausrüstung: Wetterstation, 360-Grad-Webcam, Warenaufzug, Internetanschluss, Monitore für Videos, 23 Nistkästen für verschiedene Vogelarten und Fledermäuse


Das Projekt – die Fakten

Projekt: Turm der Biodiversität, Natur- und Tierpark Goldau, Arth-Goldau (SZ)
Baujahr: 2016
Architektur: Gion A. Caminada
Holzbauingenieur: Walter Bieler AG Ingenieurbüro, Bonaduz (GR)
Holzbau: Annen Holzbau AG, Goldau
Holzlieferant: Schilliger Holz AG, Küssnacht (SZ)
Verwendetes Holz: 236 m3 Schweizer Tanne und Fichte, ausgezeichnet mit dem Herkunftszeichen Schweizer Holz

Magazin Wir HOLZBAUER

Das Mitglieder- und Verbandsmagazin von Holzbau Schweiz