04/2015 Hinter der Fassade
Stil.Form
Gut gepolstert
Ein Gebäude warm zu verpacken, ist das eine. Aber warum nicht die Fassade gleich noch weich und wetterfest polstern? Dass Kautschukdachbahnen mehr können, als im Verborgenen vor Feuchte zu schützen, zeigt eindrucksvoll die Polsterfassade an einer Lagerhalle in Uetendorf.
Für gewöhnlich erfüllen sie einfach nur ihren Zweck: Kautschukdachbahnen sind robust, witterungsbeständig, wurzelfest und dazu äusserst langlebig. Problemlos schützen sie ein Gebäude 50 Jahre und mehr vor Feuchtigkeit. Meist tun sie dies jedoch im Verborgenen, verdeckt von einer Kiesschüttung, Dachbegrünung oder durch aufmontierte Solarmodule. Und in aller Regel sind die Abdichtungsbahnen auch auf sogenannten Nacktdächern aus der Perspektive der Passanten nicht einsehbar. Anders ist das in Uetendorf (BE). Dort zeigt eine einzigartige und auch schweizweit erste Kautschukfassade an einer Lagerhalle den Reiz des Materials. Dass sich Erwin Gyger, Inhaber der Contec AG, für diese ungewöhnliche Fassadenhaut entschieden hat, ist natürlich kein Zufall. Das Unternehmen verarbeitet den Synthesekautschuk seit mehr als 20 Jahren. «Kautschukabdichtungen sind jedoch nicht unsere Erfindung», so Gyger, «sie werden bereits seit den 70er-Jahren im Flachdachbau eingesetzt.» Durch Vulkanisation wird der Synthesekautschuk – ein ursprünglich unelastisches Material – zu einem äusserst reissfesten Abdichtungsmaterial gemacht.
HOLZELEMENTFASSADE
Die Idee, das verborgene Dasein der Dachbahnen zu beenden und sie an der Fassade ins rechte Licht zu rücken, konnte Gyger bei einem Erweiterungsneubau 2012 realisieren. Es war an der Zeit, das bereits 2002 erstellte, viergeschossige Büro- und Produktionsgebäude durch eine Lager- und Auslieferungshalle zu ergänzen. Das neue Gebäude ist ein Hybridbau; ein Betonbau mit einer Holzbaukonstruktion und Holzelementfassade. Das Gebäudevolumen des Neubaus umfasst 14?560 Kubikmeter. Geplant wurde der Erweiterungsneubau durch das Architekturbüro Sobatec GmbH, die Holzelementfassade und der Pavillon auf dem begrünten Dach wurden durch die Santschi Holzbau GmbH ausgeführt – beide Unternehmen sind wie die Bauherrschaft an der Glütschbachstrasse in Uetendorf ansässig. Somit wurde das Bauvorhaben auch zu einem Projekt der kurzen Wege. «Die Nachbarschaft und gute Bekanntschaft der Baubeteiligten erwies sich für die Umsetzung als vorteilhaft», erinnert sich Romy Gyger, Tochter des Inhabers und Mitglied der Geschäftsleitung. «Es gab zahlreiche Projektbesprechungen und Baubesichtigungen, die kurzen Wege ermöglichten eine schnelle Reaktionszeit.»
GEPOLSTERTE PANELS
Die Herausforderung für den Holzbauunternehmer bestand unter anderem darin, einen geeigneten Raster für die Kautschukfassaden zu finden. Nachdem die Holzelementfassaden mit OSB-Platten, Steinwolle und Holzfaserplatten zwischen dem Ständerwerk auf der Betonbrüstung aufgebaut waren, montierten die Contec-Mitarbeiter die Kautschukhaut. Erwin Gyger entschied sich, an der neuen Lager- und Auslieferungshalle gleich zwei Fassadenvarianten zu zeigen. Auf der 67 Meter langen Längsseite des Gebäudes entstand ein Vertikalraster, dessen Unregelmässigkeit sich erst bei genauerem Hinsehen offenbart. Rechtecke mit leicht unterschiedlich geneigten Vertikallinien lösen sich an den Gebäudeenden in bewegte Formen auf. Das Zusammenspiel der technischen und organischen Formen macht die Fassade optisch lebendig und wirkt doch harmonisch. Die in der Contec-Werkstatt vorgefertigten Kautschukpanels sind in eigens dafür montierte Aluprofile eingehängt. Um den Polstereffekt der einzelnen Elemente zu verstärken, wurden diese mit drei Zentimeter dickem Schaumstoff unterfüttert.
SOFA-EFFEKT
Auf der kurzen Seite des Gebäudes ist eine Fassade mit Sofa-Effekt montiert. Nachdem hier die Holzelemente gesetzt waren, folgte gemäss einem Einteilungsplan eine Vorbohrung, in die dann Unterteller für die spätere mechanische Befestigung der Aussenhaut verschraubt wurden. Eine zusätzliche Steinwolldämmung wurde aufgebracht, um den Polstereffekt zu verstärken. Auf die bereits montierte Befestigung musste die vorkonfektionierte Kautschukplane dann anschliessend nur noch festgeklippt werden.
Das Prinzip der Fassadenhaut entspricht in der Vorgehensweise der Aufbringung von Dachbahnen. Grundlage für vorkonfektionierte Dachabdichtungen ist ein detaillierter CAD-Produktionsplan, sozusagen das Schnittmuster für den Massanzug des Daches. Ist der Plan dann an den Cutter übermittelt, zeichnet dieser an, schneidet und stanzt alle benötigten Teile elektronisch aus. Für die Dachhaut werden dann die einzelnen Bahnen mit Schweissautomaten zusammengefügt. Eckstücke, Lichtkuppelecken und andere Dachdurchdringungen können bereits in der Werkhalle in die Kautschukbahnen einvulkanisiert werden. Das Resultat ist eine bis zu 95 Prozent vorgefertigte und massgeschneiderte Dachhaut oder – wie bei dieser Fassade – eine langlebige und wetterfeste Aussenhaut.
Mit dem Erweiterungsneubau ist es Erwin Gyger gelungen, für die Kunden, Geschäftspartner und rund 60 Mitarbeitenden der Contec AG einen Firmensitz zu realisieren, der den Werkstoff Kautschuk auf eine ungewöhnliche Weise in den Fokus rückt und damit einen hohen Wiedererkennungswert und Identifikationsgrad generiert. «Unsere Kunden reagieren begeistert und finden die Idee sehr innovativ», freut sich Gyger über das positive Feedback. Die Fassadenvariante mit dem Sofa-Effekt hat in der Westschweiz bereits erste Nachahmungen gefunden. Die Fassade aus den gepolsterten Elementen wurde zwar noch nicht in Auftrag gegeben, doch auch hier sei das Interesse von Architekten und Planern gross.