02/2018 Form und Struktur
FOKUS.THEMA
Über den Wipfeln
Erst nur Vision, seit Mai 2018 aber Wirklichkeit: Schwungvoll führt der Baumwipfelpfad Neckertal vom Wurzelwerk bis über die Baumkronen durch den Toggenburger Wald. Er ist der erste seiner Art und konfrontierte die Planer mit vielen offenen Fragen – wie zum Beispiel zur Finanzierung oder zu detaillierten statischen Lösungen auf dem weichen Waldboden.
Text Sandra Depner | Fotos Yannik Aeberhard, Daniel Ammann, Eugen Traber, Samuel Roth
Mit seinen sanften Kurven erinnert der Baumwipfelpfad Neckertal an eine Brio-Eisenbahn. Nur dass sich hier nicht etwa Spielzeugwaggons bewegen. Hier bahnen sich Touristen und Einheimische ihren Weg durch den Toggenburger Wald. Der Pfad führt sie vom Erdboden bis über die Baumkronen und macht so die verschiedenen Stockwerke der Bäume erlebbar. Seit Mai 2018 lockt der erste Baumwipfelpfad der Schweiz Besucher ins idyllische Steinwäldli bei Mogelsberg (SG). Die Nähe zur Natur und Region beweist auch die Konstruktion selbst: Der Pfad sowie das dazugehörige Kassen- und Kioskhäuschen, das Wipfelhaus, besteht zum Grossteil aus Holz. Das Holz wiederum stammt ausschliesslich aus dem Toggenburger Wald, das von regionalen Betrieben weiterverarbeitet wurde. So schliesst sich im Neckertal die Wertschöpfungskette auf eine ganz nachhaltige Weise.
Auf dem 513 Meter langen Steg mit Aussichtsplattform lässt das Bauwerk die Natur hautnah erleben. Der Baumwipfelpfad bietet Ausblicke mit Panorama und Einblicke in sonst nicht erreichbare Tiefen des Ökosystems Wald. Ein dazugehöriger Umwelterlebnispfad zeigt und erklärt das Leben der Bäume und des empfindlichen Ökosystems, in welchem sie gedeihen. Die Aussichtspunkte, Aktionselemente und Umweltbildungsstationen auf dem Pfad, die zwischendurch auch Mut und Geschicklichkeit verlangen, vermitteln durch die didaktische Aufbereitung ein nachhaltiges Erlebnis.
Das Konzept: Von der Wurzel bis zur Krone
Der barrierefreie Pfad führt durch verschiedene Ebenen des Waldes – von der Wurzel bis zur Baumkrone – und erfordert eine filigrane Architektur. Der Entwurf stammt vom Kollektiv Nordost aus Waldstatt (AR). Die geschickte Führung im Gelände eröffnet verschiedene Perspektiven auf das Landschaftspanorama des Neckertals. Es wurde bei der Bauweise darauf geachtet, so bedacht und naturschonend wie möglich mit dem Bauplatz und den Ressourcen umzugehen. Bei dem geschwungenen Bauwerk handelt es sich um eine Holzkonstruktion in Ständerbauweise. Lediglich in den steilen Partien ergänzen Stahlkonstruktionen die einzelnen Stützen aus statischen Gründen. Die Verankerung im Boden ist mit Krinner-Schraubfundamenten und vereinzelt mit Betonfundamenten gelöst. Das gesamte Tragwerk ruht auf 124 Rundholzstützen, die je nach Beschaffenheit des Untergrunds zwischen 3,15 und 15,65 Metern messen. Der gesamte Weg ist mit einem beidseitigen Geländer aus Stahl mit hölzernem Handlauf gesichert. Topografisch wird das Erlebnis aufgewertet durch das stark kupierte Gelände und die steilen Taleinschnitte. Der Pfad ragt stellenweise über die eigentlichen Baumhöhen des Waldes hinaus und öffnet den Blick in die Landschaft über die tiefer gelegenen Bäume.
Die Besucher erreichen den Pfad über den Zugang im neuen, rund 200 Quadratmeter grossen Wipfelhaus. Es wurde direkt neben einem bereits bestehenden Blockhaus platziert.
An die Arbeit: Mit Elan und viel Ehrenamt
Dass es im Toggenburg heute überhaupt einen Baumwipfelpfad gibt, hat mit einer traditionsreichen, 200 Jahre alten Holzbrücke über die Thur bei Lütisburg zu tun und geht auf das Jahr 1986 zurück. Damals plante die St. Galler Regierung für die Brücke einen Ersatzneubau – jedoch nicht in Holzbauweise. Zimmereien aus dem Toggenburg und dem Glarnerland bauten die alte Brücke anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums im Massstab 1:2 nach. Diese Zimmereien schlossen sich daraufhin zum Verein IG pro Holzbrückenbau zusammen, um wieder mehr Holzbrücken in die Schweizer Landschaft zu bringen.
Heute ist der Verein als IG Holz Toggenburg bekannt und setzt sich für mehr Gebrauch vom Werk- und Baustoff Holz in der Ostschweiz ein. 2011 hörte der Vizepräsident und Toggenburger Zimmermeister Fritz Rutz beim Internationalen Holzbauforum in Garmisch-Patenkirchen (DE) das erste Mal von den Erfolgen der Baumwipfelpfade im Bayerischen Wald und in der Steiermark. Er war es, der die Idee in den Vorstand der IG Holz Toggenburg brachte: Ab dann verfolgten Fritz Rutz und Adolf Fäh mit Sympathisanten die Vision, den ersten Baumwipfelpfad der Schweiz zu bauen. Die Fachhochschule Rapperswil erstellte zu diesem Zweck eine Marktstudie mit Businessplan.
Das Ergebnis der Studie war ernüchternd: Die Einnahmen könnten den Betrieb und den Unterhalt decken, jedoch nicht die Baukosten. Daraufhin wurde die Genossenschaft Baumwipfelpfad Neckertal gegründet. Ihr Ziel war es ab dann, das nötige Kapital von 3,8 Millionen Franken mit gleichgesinnten Genossenschaftern und Sponsoren zusammenzubringen. Der Verwaltungsrat der Genossenschaft bildete spezielle Arbeitsgruppen. Die Arbeitsgruppe Umweltbildung erarbeitete die Inhalte des Umwelterlebnisweges und der Spielelemente – vom Konzept bis zur Detailplanung der interaktiven Erlebnisstationen. Diese säumen den Weg vom Bahnhof; weitere befinden sich unterhalb, andere auf dem Pfad. Ein Spielplatz und eine Erholungsoase mit einem Niederseilgarten, Kletterelementen, Seilbahn und Balancierstämmen sowie Grillplätzen runden das Erlebnisprogramm im Steinwäldli ab.
Die Arbeitsgruppe Mobilität sah sich mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert, um einerseits den Bedürfnissen der Einwohner des Dorfes Mogelsberg Rechnung zu tragen und andererseits die Rahmenbedingungen für die Besucher optimal zu gestalten. Sie definierte Parkplätze und schloss einen Vertrag mit RailAway, um zur Benutzung des öffentlichen Verkehrs zu motivieren. Ferner wurde die Signaletik am Bahnhof und beim Übergang zum Wanderweg analysiert und eine entsprechende Ausser- und Innerortsbeschilderung ausgearbeitet.
Fritz Rutz und Bauleiter Hanspeter Schweizer, Baubüro Schweizer, sahen sich in der Arbeitsgruppe Bau mit architektonisch anspruchsvollen Herausforderungen konfrontiert. Alle Lösungen unterlagen der Anforderung, umweltschonende Prozeduren für den Bau und den Umgang mit Ressourcen zu wählen. Auf der Agenda standen auch diverse andere Aufgaben: von der Vergabe über die Baustelleninstallation und Einsatzplanung des Militärs bis hin zur Gestaltung der Umgebung und der Teilstrasse. Immer wieder wurde die Arbeitsgruppe vor neue Fragen gestellt und bei der Suche nach Lösungen auch von Ingenieuren, Architekten und Förstern begleitet. Vor dem Baustart waren viele Abklärungen nötig. So wurde der Baumbestand minutiös registriert. Ein beauftragter Geometer führte die Absteckungen im Wald durch. Er übergab die Daten mit insgesamt 452 aufgenommenen Punkten an den Holzbauer. Experten analysierten die Bodenbeschaffenheit und erstellten Studien dazu, wie die Tragelemente des Pfades im Boden verankert werden können.
Nachhaltige Wertschöpfung: Holz und Know-how aus der Region
Die Aufträge für die Holzbauarbeiten erhielten Unternehmen aus der Region. Die Arbeitsgemeinschaft Neckertal für den Baumwipfelpfad setzte sich aus drei Zimmereien zusammen: Egli Zimmerei AG, Holz Keller AG und Willi Roth Holzbau GmbH. Deren Planung startete Anfang Mai 2017. Zwischen Juli 2017 und August 2017 wurden die Elemente produziert. Nach den erforderlichen Vorarbeiten bereiteten sie die Tragelemente vor. Freiwillige, vor allem Mitarbeitende des Lead-Partners St. Galler Kantonalbank, schälten die 140 Baumstämme in über 650 Stunden. Am 7. August 2017 war es dann so weit: Mit einem grossen Lastwagen und mit einem Kranwagen wurden die vorfabrizierten Elemente ins Steinwäldli gebracht und in nur einem Monat zum Baumwipfelpfad montiert. In dieser Zeit lagen die Herausforderungen vor allem im Witterungsschutz der Hauptträger. Die Montage war nichts für schwache Nerven: Beim Aufrichten der Aussichtsplattform fanden die Arbeiten bis zu 45 Meter oberhalb des Bodens statt.
Nach der Fertigstellung des Pfades konnte im Oktober 2017 mit dem Bau des Wipfelhauses begonnen werden. Es bildet die Eingangspforte zum Pfad. Bei dem Kassen- und Kioskhäuschen in Holzständerbauweise kamen ebenfalls zwei Holzbauer aus der Region zum Zug: das Unternehmen Hansueli Roth Holz- und Elementbau und die Rüegg Holzbau AG aus Ricken. Deren Werkplanung und Vormontage startete im Juni 2017. Im Dezember 2017 erfolgte die Montage auf der Baustelle innerhalb von drei Tagen; der Ausbau nahm viereinhalb Wochen in Anspruch. Eine logistische Herausforderung verursachte die Zeitspanne zwischen Vormontage und Aufrichten auf der Baustelle, da Aushub und Baumeisterarbeiten erst nach der finalen Fertigstellung des Pfades beginnen konnten. Beim Wipfelhaus handelt es sich um eine Holzkonstruktion mit Fassadenpfosten, die als konstruktiven Holzschutz dienen. Von den Planern waren Detaillösungen für die Balkenlage und die Fassadenpfosten, die dem Wetter ausgesetzt sind, gefragt. Beim Baumwipfelpfad selbst wie auch beim Wipfelhaus war die Vorgabe der Einsatz von Schweizer Holz, das vorwiegend aus der Region Neckertal stammen sollte. Vom Konstruktionsholz im Tragwerk über die Fastäfer aus Tanne an der Wand bis hin zur Lärche unter dem Bodenrost: Die rund 45 Kubikmeter Holz für das Wipfelhaus sind allesamt im Schweizer Wald gewachsen. Beim Pfad selbst kamen rund 465 Kubikmeter Schweizer Holz zum Einsatz. Die Firma Roth Burgdorf lieferte 233 Kubikmeter Brettschichtholz für die Fertigung des Baumwipfelpfads. Das Unternehmen aus dem Emmental fertigte 66 gebogene Träger. Als Rohmaterial wurden die im Toggenburg gefällten und geschnittenen Lamellen verwendet (Fichte / Tanne). Diese wurden daraufhin blockverleimt zu 33 Gehwegträgern weiterverarbeitet. Die Querschnitte der gebogenen Träger liegen zwischen 760 auf 440 Millimetern und bis zu 1240 auf 440 Millimetern. Der kürzeste gebogene Träger misst 7,5 Meter, der längste 16,5 Meter.
«Wer wagt, gewinnt»: Finanzierung und Partner
Der Bau des Baumwipfelpfads gelang der Genossenschaft mit Hilfe von Sponsoren und Partnern. Lead-Partnerin ist die St.?Galler Kantonalbank. Anlässlich ihres 150-Jahr-Jubiläums rief die Bank 2016 die Bevölkerung auf, mit neuen Impulsen gemeinsam die Zukunft nachhaltig zu bereichern. Die Genossenschaft Baumwipfelpfad Neckertal überzeugte das Finanzinstitut von der Investition in das Projekt. Mit einer Spende von 1,2 Millionen Franken stieg die St.?Galler Kantonalbank ein. Daneben engagierten sich auch der Kanton St.?Gallen mit Lotteriefonds sowie die Standortgemeinde und die Waldregionen.
Finanziellen Zuspruch gaben zudem das Bundesamt für Umwelt, knapp ein Dutzend Stiftungen und über 50 Unternehmen. Die Spenden beliefen sich auf fast 100 Prozent des anvisierten Kapitals und finanzierten so sämtliche Bauleistungen. Wenn Fritz Rutz heute zurückblickt, spricht er von einem hohen
Risiko, das der Verwaltungsrat der Genossenschaft zum Baustart im Herbst 2016 einging. Damals lag das Spendenbarometer erst bei 1,5 Millionen Franken von den benötigten 3,8 Millionen Franken. «Wer wagt, gewinnt», sagt der Zimmermeister heute, wenn er von der erfolgreichen Baugeschichte erzählt.
Die Bevölkerung einbinden: Besucher werden Genossenschafter
An drei Besuchstagen lud die Genossenschaft Neckertal Interessierte ein, sich vor Ort einen Eindruck über die Baufortschritte zu verschaffen. Fritz Rutz und Willi Roth gaben Einblick in die baulichen Herausforderungen. Sie erzählten vom Suchen und Fällen der geeigneten Bäume im Winter 2016 und vom Entrinden von Hand. Sie erklärten die Fundamente und erläuterten die einzelnen Bauelemente, die nach der Vormontage im Werk schliesslich im Wald zusammengesetzt wurden. Für Staunen sorgte der Grossflächenkran mit einem Ausleger von 60 Metern: Er hievte die einzelnen Elemente vom Erdreich über die Baumspitzen hinweg zu ihrem Bestimmungsort. Die Besuchstage blieben nicht ohne Folgen: Die Visionäre konnte viele Interessierte für ihr Projekt begeistern – und dafür, selbst als Genossenschafter Teil des Baumwipfelpfades zu werden. Im April 2018 waren es bereits 238 private Personen, Unternehmen und Institutionen.
Die Attraktion im Neckertal spricht mit
dem pädagogisch aufgearbeiteten Stationen Schulklassen an. Ebenso bietet der Baumwipfelpfad die Infrastruktur für Firmenausflüge, Vereinsanlässe oder Familienfeiern – auf Anfrage mit Catering. Das schweizweit einzigartige Bauwerk ist das Ergebnis vieler einzelner Elemente, die zum Erfolg beitrugen: die Leidenschaft für das Holz und den Wald, eine Verwurzlung in der Region und das hartnäckige Verfolgen der eigenen Visionen.
Finanzspritze für den Pfad: Sympathisanten kaufen Bohlen
Der Baumwipfelpfad ist aber auch nur Realität geworden, weil viele Menschen für das Projekt begeistert werden konnten. Auch für kleines Geld können die Besucher sich am Erfolg des Projektes beteiligen und ihren Teil zum 513 Meter langen Pfad über die Baumwipfel beitragen: über den Kauf einer Holzbohle von je 100 Franken. Bislang wurden von den insgesamt 4000 Bohlen schon 2150 verkauft.
baumwipfelpfad.ch, igholztoggenburg.ch, 150jahre.ch, willi-roth-holzbau.ch, rueegg-holzbau.ch, eglizimmerei.ch, baueninholz.ch, keller-holz.ch
Baumwipfelpfad Neckertal in Mogelsberg from imagevideo Beat Schiltknecht on Vimeo.
Das Projekt – die Fakten
Projekt: Baumwipfelpfad Neckertal
Standort: Steinwäldli bei Mogelsberg (SG)
Bauherrschaft: Genossenschaft Baumwipfelpfad Neckertal
Baujahr: 2017/2018
Architektur: Kollektiv Nordost GmbH, Waldstatt (AR)
Holzbauingenieur: Krattiger Engineering AG, Mattwil (TG)
Bauleitung: Baubüro Schweizer, Hemberg (SG)
Holzbau, Arge Neckertal: Egli Zimmerei AG, Oberhelfenschwil (SG);
Holz Keller AG, Bächli-Hemberg (SG); Willi Roth Holzbau GmbH, Oberbüren (SG)
Gesamtkosten: CHF 3,8 Mio.; Hochbaukosten CHF 2,2 Mio.
Holz, total verbaut: 464,2 m³ Schweizer Holz
Brettschichtholz: Roth Burgdorf AG, Burgdorf (BE)
Lamellen: Toggenburger Sägereien
Das Projekt – die Fakten
Projekt: Wipfelhaus
Bauherrschaft: Genossenschaft Baumwipfelpfad Neckertal
Baujahr: 2017/2018
Projektleitung: Samuel Roth
Holzbau, Arge Rüegg / Roth:
Hansueli Roth Holz- und Elementbau,
Ganterschwil / Mogelsberg (SG);
Rüegg Holzbau AG, Ricken (SG)
Kosten Holzbau: CHF 160 000
Bruttogeschossfläche: 199 m²
Holz: 45,56 m³ Schweizer Holz